Samstag, 10. Oktober 2009

Sacharov Museum und Handtaschensport

04.09.2008, Donnerstag.

Mein Morgenablauf lässt sich am dritten Tag getrost als "routiniert" bezeichnen: Mit dem Bewusstsein aufwachen, dass am Abend zuvor den russischen klaren Flüssigkeiten reichlich zugesprochen wurde, duschen (um das Gefühl im Kopf zu verabschieden) und dann ab zum Frühstück. Gleich danach wieder rauf und beim Zähneputzen am Fenster die Stadt mit einem Liedchen (wahlweise die russische Hymne oder die Internationale) und einer kleinen Rede begrüßt.
Heute kam zu dem ganzen Ablauf noch das herrliche Gefühl dazu einer von wenigen zu sein, bei denen sich der Kater in überschaubaren Grenzen hält. Ein paar unserer Truppe waren bin 04:30 Uhr unterwegs.
Der erste Punkt heute ist das Andrej Sacharov Museum / Gedenkstätte. Andrej Sacharov war ein äußerst angesehener Wissenschaftler in der Sowjetunion, der ab einem gewissen Zeitpunkt in die Schusslinie der Offiziellen geriet, weil er sich der Dissidentenbewegung zugewandt hat. Heute hat die Gedenkstätte massive Probleme mit der Stadtführung und steht kurz vor dem Schließen. Das Museum zeigte eine Ausstellung, die den orthodoxen Fantikern - und das meine ich jetzt todernst - unorthodox erschien. Prompt hatte das Haus eine Klage am Hals, dann kein Geld mehr, und jetzt sind wir wahrscheinlich eine der letzten Gruppen, die die Gelegenheit bekommen sich das Museum anzuschauen und mit den Leitern zu sprechen.

Die Metrofahrt ist ein beschauliches Erlebnis. Zu den Stoßzeiten (ca. 8 - 10 und 16 - 20 Uhr) scheint ganz Moskau sich zu einem netten Stelldichein in den Katakomben der Metro zu versammeln. Dass es dabei sehr eng zugeht haben Sie vielleicht schon erraten. Wie eng es ist können Sie sich leider nur denken. Stellen Sie sich eine, na sagen wir mittelmäßig besuchte Fußgängerzone in Honkong vor. Sie haben jetzt hoffentlich dieses Bild vor Augen, in dem ein bunter Haufen Asiaten vor einer Fußgängerampel steht und auf grün wartet. Nehmen Sie nun diesen Haufen, addieren ein paar höher gewachsene Russen (durchaus auch nach der vergangenen Nacht riechend) und sperren Sie ihn nun in eine 3*5m große U-Bahnhaltestelle vor zwei Rolltreppeneingänge.
Kleiner Tipp: Sollten Sie nach Moskau kommen, ziehen sie keine weißen Schuhe an.
Diese Menschenmasse bewegt sich in nur eine Richtung und wenn sie in eine andere wollen haben Sie verloren.
Das Erstaunliche aber ist, dass alles in einer fast beängstigenden Ruhe vor sich geht. Zwar wird geschoben und gedrängelt als gäbe es am Ende der Treppe gratis Wodka, aber keiner flucht oder schickt den Passanten böse Verwünschungen hinterher.
Und das Beste ist meiner Meinung nach der ungeheure Spaß, den man haben kann. Ich habe von Mutter Natur ein Paar zwar schlacksiger, aber dafür unerhört langer Arme bekommen. Als Kind wusste ich nicht viel damit anzufangen und meine bewusste Kontrolle über diese meine Arme war begrenzt. Daraus resultierten dann der ein oder andere gebrochene Finger.
Spätestens seit Moskau jedoch habe ich den tieferen Sinn entdeckt: In diesem unglaublichen Gedränge ist es ein Heidenspaß die Inhalte von Frauenhandtaschen zu vertauschen. Bevor Sie mir jedoch kriminelle Charakterzüge unterstellen möchte ich erwähnen dürfen, dass der Anstoß zu diesem (anstößlichen) Sport unfreiwillig kam. In eben solch einem Menschenknäuel schlenkern meine Arme immer in irgendwelche Handtaschen hinein und wenn ich sie verdutzt herausziehe hängt vielleicht ein Teddybär, ein Lippenstift, Spiegel, Pfefferspray oder sonst ein lustiges Gerät mit daran. Tja, und eh ich mich's verseh liegt es auch schon in einer anderen Handtasche. Denn die ehemalige Besitzerin wurde vom Menschenstrom weiter gezogen und an ihre Stelle tritt eine neue Frau - mit Handtasche. Nun ja, und jetzt betreibe ich diesen Sport bewusst. Wobei ich versuche Portemonnaies immer in die richtige Handtasche zurück zu geben - natürlich nicht ohne vorher einen 10 Rubelschein mit hineingesteckt zu haben.

Das Musem derweil war von äußerster Übersichtlichkeit und wunderbar. Menschenrechtler in Russland haben leider einen schweren Stand und so ist das 1996 gegründete Sacharov Museum auch nicht viel größer als ein Einfamilienhaus. Die Ausstellung befindet sich in der ersten Etage und ist jedem zu empfehlen, der ein wenig russisch kann. Es ist eine düstere Epoche der russischen Geschichte gezeigt (sprich: die russische Geschichte von den Anfängen bis heute) und es dreht sich vor allem um die Zeit des großen Terrors unter Stalin. Mit Hilfe der NGO Memorial hat es die Sacharov Gedenkstätte geschafft Listen der in Moskau Erschossenen und Verurteilten zu erstellen. Das ergreifenste Exponat ist sicherlich die Akte, in der ein Photo der betroffenen Peron klebt und mit ein paar Zeilen das "Vergehen" geschildert wird. Teilweise sieht man den gebeugten Leuten die Folter an, die sie erlitten. Nicht wenigen scheint es ins Gesicht geschrieben zu sein, dass sie wissen, dass sie gleich erschossen werden. Eine chronolgische Darstellung der schlimmsten Jahre, Geräte und Kleidung aus der Lagerhaft, Listen und Bilder von Denkmälern für Opfer der Repressionen und eine Tafelchronologie Sacharivs komplettieren dieses Museum. Gehen Sie hin, es lohnt sich!

Vom Museum aus machten wir uns auf den Weg zur Arbeitsstelle Memorials, der NGO in Russland.
Ich weiß nicht genau ob ich die dort aufgegriffenen Eindrücke beschreiben möchte. Es war eine unglaublich surreale Begegnung mit der Realität. Dokumente (Originale) von Verfolgten, Verurteilten, Erschossenen; eine Registrierkarte einer vierjährigen, deren Eltern weggesperrt wurden; ein Parteiwausweis, dessen Besitzer ebenso im Nirgendwo verschwand, wie Millionen und Millionen anderer, deren Geschichte und Schicksale Memorial versucht zu sammeln, so dass sie nicht in Vergessenheit geraten.


Sicherlich habt ihr bemerkt, dass ich in dem Moskautagebuch Euch immer mit "Sie" anspreche. Das liegt ganz einfach daran, dass ich vor einem Jahr noch nicht so recht wusste, wem ich das Tagebuch letztendlich zeigen würde. Und für den Fall, dass die Bundeskanzerlin oder zumindest ein Dozent meinerseits diese Zeilen läse, habe ich mich für die etwas höflichere Form entschieden. Ich glaube auch, dass es dem Inhalt eher entspricht, und möchte deswegen dabei bleiben, so lange ich das Moskautagebuch "veröffentliche". Ich hoffe ihr verzeiht mir, dass ich Euch mit Sie anspreche.

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