Freitag, 23. Oktober 2009

Bekanntschaft mit zwei Generälen

Von den weniger erbaulichen Dingen, die die Russen in ihrer Geschichte veranstaltet haben zurück zur Gegenwart und zu den angenehmeren Teilen. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass ich bislang noch keiner – nennen wir es offener Abneigung – begegnet bin, nur weil man in mir den Ausländer schon von weitem erkennt. Die etwas reservierte Haltung mir gegenüber würde ich eher auf den seltsamen Charakter der Russen (oder Moskauer) zurück führen, jedem zunächst seltsam kalt zu begegnen. Entgegen dem Ratschlag meiner besten Freundin so wenig wie möglich russisch zu sprechen, da man ansonsten sofort merkte, dass ich Ausländer wäre, und mir somit die kalte Schulter zeigen würde, habe ich trotz massiven Russischgebrauchs keine derartige Erfahrung gemacht. (Toi toi toi). Ich muss ja auch nicht erst den Mund aufmachen, um erkennbar zu machen, dass ich nicht von Kind an in Moskau aufgewachsen bin. Ich trage schließlich weder eine pinke Jogginhose mit dazugehörigem hellblauen Oberteil und roten Turnschuhen, noch hänge ich von früh bis spät mit meinen Kumpels an dem einschlägigen Stellen herum, um mich mit Wodka vollaufen zu lassen. Meine Turnschuhe sind weiß und getrunken wird im Hotel.
Nein, im Gegenteil zu den düsteren Voraussagen erklärte mir die Dönerfrau freundlich das „Döner“ im Russischen „Kebab“ hieße – hätte ich selbst drauf kommen müssen – bei der Museumsfrau hieß ich liebevoll „молодчик“ - Jüngchen. Die schönste Erfahrung in dieser Beziehung bot mir allerdings der General Vassilij.
Kurz bevor wir uns bei Memorial trafen, ruhte ich mich im Garten der Erimitage ein wenig aus. Links auf einer Bank neben mir war eine Gruppe von drei lärmenden, trinkenden Russen und einer weniger lauten Russin dabei, sich in aller Fürsorgepflicht zueinander gegenseitig mit Sekt und Wein zu versorgen. Auf der Bank zu meiner Rechten saß aber General Vassilij, den ich bis dato jedoch noch nicht als solchen erkannte. General Vassilij ließ sein Taschentuch fallen und bevor er sich bücken konnte war ich mit einem tollkühnen Hechtsprung zur Stelle und hob es in aller mir immer eigenen Ritterlichkeit auf. Er bedankte sich brav auf Englisch (meine weißen Turnschuhe haben mich sicher als Touristen enttarnt) ich aber antwortete in einem Anflug von jugendlichem Hochmut auf Russisch. Da sah er mich ein wenig erstaunt an und fragte mich ob ich Russisch spräche. Ich wollte schon antworten: „Nein, wissen Sie, die eben gesagten Worte sind mir im Traum erschienen.“ aber das entspräche nicht meiner unglaublichen Liebe zu allen meinen Mitmenschen. Also sagte ich nur kurz, dass ich es nur studiere, aber da war er schon ein wenig gerutscht und forderte mich auf sich neben ihn zu setzen. Es entspann sich ein nettes Gespräch, in welchem er immer, wenn er etwas für ihn unerfreuliches erzählte mit Nachdruck mit seinem Spazierstock dreimal heftig auf den Boden klopfte. Am Ende wusste ich nicht nur, dass er die 80 schon seit sieben Jahren überschritten hatte, dass er Panzergeneral im Krieg war und dass er nach dem Krieg als Konzertviolonist durch Deutschland tourte. Nein, in der halben Stunde lernte ich auch noch seine Frau sowie seine Urolgin kennen. Ich glaube viel tiefer kann man innerhalb von 30 Minuten nicht in einen Menschen eindringen. Das lieblichste an General Vassilij war jedoch, dass er der trinkenden Jugend ein ums andere Mal mit seinem Gehstock an den Kragen wollte, weil er deren Sprache nicht ertrug: Schließlich war doch eine Frau dabei, wie konnte man denn da so unmöglich reden?! (Mir ging eher der Krach sowie Geruch gegen den Strich, aber gut.)
Des Weiteren schaute er jeder Frau hinterher, die sich im Alter zwischen 18 und 90 Jahren bewegte. In Gedanken überließ ich ihm die Fraktion Ü30 und vergnügte mich mental mit dem Rest. Es war wie Großvater und Enkel.
Soviel zur Abneigung gegenüber Ausländern.

Vielleicht noch ein Nachtrag zu Memorial: Russlands größte NGO arbeitet in Räumen, die bis zur Decke mit Dokumenten vollgestopft sind. Mitarbeiter müssen sich teilweise Tisch und zuweilen auch – kein Scherz – Stuhl teilen. Die Räume sind winzig. Das ganze Gebäude ist, sagen wir, überschaubar.
Wir nahmen zunächst im Gulag-Archiv Platz. Im Halbkreis, auch auf dem Boden sitzend. Wir hatten an diesem Tag doppeltes Glück: Wir erhielten nämlich einen Einblick in das Gulag- und das Dissidentenarchiv; ein fünf Quadratmeter großer Raum, ebenfalls mit Akten bis zur Decke. Die Herrin des Raumes taute unendlich auf, als sie merkte, dass wir auch wirklich interessiert waren (zumindest diejenigen von uns, die einen etwas ausführlicheren Schlaf bekommen hatten). Sie konnte uns unglaubliche Dinge aus der Dissidentenbewegung zeigen und erzählen. Winzige Papierrollen, die im Samizdat' von Hand zu Hand gereicht wurden. (Samizdat' bezeichnet die Weitergabe von verbotenen Werken unter der Hand; oftmals auch die Kopie selbiger – per Hand. Sam-Izdat': selbst herausgeben)
Außerdem konnte die Dame nette Geschichten von einem gewissen General Piotr Grigorenko erzählen. Grigorenko war eine Person, über die ich ein paar Worte verlieren muss. Der Knabe war mit einer gehörigen Portion Humor und Ironie ausgestattet. Bei Kriegsausbruch kurzerhand aus der Militärakademie an die Front geschickt, kletterte er munter die Karriereleiter bis zum General hinauf. Den ersten Kontakt mit dem Burschen hatte ich in Zusammenhang mit meiner Hausarbeit über die Krimtataren. Urplötzlich aus dem Nichts auftauchend hielt er 1968 vor einer Versammlung von Krimtataren eine flammende Rede für Meinungsfreiheit und Menschenrechte. (Ich glaube jetzt kann man ahnen, in welche Richtung es geht.) Dabei sollte eigentlich sein Kumpel diesen Part übernehmen. Nur lag dieser wegen einer Grippe im Bett. Von diesem Moment an taucht Grigorenko an allen möglichen und unmöglichen Ecken des Landes auf. Ich werde das Gefühl nicht los, dass alles, was ihm gegen den Strich ging nicht vor ihm sicher war. Und das war eine Menge.
Und damit zurück ins Archiv (natürlich besteht hier keinerlei Zusammenhang, aber irgendwie muss ich ja zurück.) Tatjana – die Dissidentenarchiv-Chefin – zeigte uns ein Photo von Piotr dem alten Haudegen. Auf selbigem sieht man ihn von der Hüfte aufwärts. Er hat eine schicke Uniform an und ist mit allen Abzeichen behangen, die jemals zwischen Smolensk und Vladivostok hergestellt wurden. Eigentlich ein durchaus plausibler Grund für Stolz. Nur spiegelt sein Gesichtsausdruck weniger Stolz, sondern eher Ironie und Sarkasmus wider. Das Lächeln ist wirklich ironisch. Fast so, als wollte er sagen: „Schick, nicht wahr? Die Orden sehen doch aus wie echt, findet ihr nicht? Sie sind aber nur aus Holz. Hat mein Sohn in der Grundschule bemalt. Machen wir noch eine Frontalaufnahme?“ Tatjana konnte uns den wahren Grund für dieses spitzbübische Lächeln erklären: Der Held der Sowjetunion und mehrfach ausgezeichnete General Piotr Grigorenko trug zur beladenen Militärjacke eine schlichte Pyjamahose. Ich denke, dass zeigt seine Einstellung zum Militär.
Ja, so einer war unser wackerer Recke. Er verabscheute in späteren Jahren die unmenschlichen Umgangsformen der UdSSR, ließ sich in Pyjamahosen ablichten (übrigens das einzige Photo von ihm in Uniform) und stellte sich auch schon mal munter „Kalinka“ vor sich herpfeifend vor eine Fabrik und verteilte selbst gedruckte Flugblätter mit seinen Söhnen. Irgendwann wurde es der Sowjetführung dann aber doch zu bunt, und sie steckten ihn in ein Krankenhaus für psychisch ein wenig entrückte Menschen. Ein sehr beliebtes Mittel damals, um Dissidenten zu bestrafen und vor weiteren Torheiten zu bewahren. Man beachte nur einmal den symbolhaften Charakter.
Ich bezweifle in keiner Weise, dass der Gute ein interessanter Fall für den Psychiater war („Und Sie haben tatsächlich alle 5000 Flugblätter per Hand geschrieben, Herr Grigorenko?“), aber er war in erster Linie ein beeindruckender Charakter, der Muts genug war, sich gegen ein System zu stellen, das dem kleinsten Anflug von Opposition mit massiven Repressionen Einhalt gebot.
Und Tatjana hat Herrn Grigorenko in seinem Haus besucht. Ich war total begeistert.

Wir trafen noch Frau Irina Schtscherbakova, die uns zuvor einmal in Heidelberg besuchte, und erhielten noch einen kurzen Einblick einer Expertin in die aktuelle Lage im Kaukasus. Offensichtlich standen einem jeden von uns noch die nächtlichen Strapazen ins Gesicht geschrieben, denn wir wurden des Öfteren gefragt, ob wir sehr müde wären. So eine Nacht in einem Moskauer Hotel kann aber auch verdammt lang und feuchtfröhlich werden.
Mir jedoch ging es äußerst gut (zweifelsfrei auf eine schier übermenschliche Fitness zurückzuführen) und ich war voller Tatendrang. Aber auch voller Leere in der Magegend. Wir aßen schließlich in einem kaukasischen Restaurant (welch Ironie) und machten uns dann auf ins Hotel. Ich ließ die Nacht bei ein wenig Wodka und einem netten Gespräch in Sarahs Zimmer langsam ausklingen.

Samstag, 10. Oktober 2009

Sacharov Museum und Handtaschensport

04.09.2008, Donnerstag.

Mein Morgenablauf lässt sich am dritten Tag getrost als "routiniert" bezeichnen: Mit dem Bewusstsein aufwachen, dass am Abend zuvor den russischen klaren Flüssigkeiten reichlich zugesprochen wurde, duschen (um das Gefühl im Kopf zu verabschieden) und dann ab zum Frühstück. Gleich danach wieder rauf und beim Zähneputzen am Fenster die Stadt mit einem Liedchen (wahlweise die russische Hymne oder die Internationale) und einer kleinen Rede begrüßt.
Heute kam zu dem ganzen Ablauf noch das herrliche Gefühl dazu einer von wenigen zu sein, bei denen sich der Kater in überschaubaren Grenzen hält. Ein paar unserer Truppe waren bin 04:30 Uhr unterwegs.
Der erste Punkt heute ist das Andrej Sacharov Museum / Gedenkstätte. Andrej Sacharov war ein äußerst angesehener Wissenschaftler in der Sowjetunion, der ab einem gewissen Zeitpunkt in die Schusslinie der Offiziellen geriet, weil er sich der Dissidentenbewegung zugewandt hat. Heute hat die Gedenkstätte massive Probleme mit der Stadtführung und steht kurz vor dem Schließen. Das Museum zeigte eine Ausstellung, die den orthodoxen Fantikern - und das meine ich jetzt todernst - unorthodox erschien. Prompt hatte das Haus eine Klage am Hals, dann kein Geld mehr, und jetzt sind wir wahrscheinlich eine der letzten Gruppen, die die Gelegenheit bekommen sich das Museum anzuschauen und mit den Leitern zu sprechen.

Die Metrofahrt ist ein beschauliches Erlebnis. Zu den Stoßzeiten (ca. 8 - 10 und 16 - 20 Uhr) scheint ganz Moskau sich zu einem netten Stelldichein in den Katakomben der Metro zu versammeln. Dass es dabei sehr eng zugeht haben Sie vielleicht schon erraten. Wie eng es ist können Sie sich leider nur denken. Stellen Sie sich eine, na sagen wir mittelmäßig besuchte Fußgängerzone in Honkong vor. Sie haben jetzt hoffentlich dieses Bild vor Augen, in dem ein bunter Haufen Asiaten vor einer Fußgängerampel steht und auf grün wartet. Nehmen Sie nun diesen Haufen, addieren ein paar höher gewachsene Russen (durchaus auch nach der vergangenen Nacht riechend) und sperren Sie ihn nun in eine 3*5m große U-Bahnhaltestelle vor zwei Rolltreppeneingänge.
Kleiner Tipp: Sollten Sie nach Moskau kommen, ziehen sie keine weißen Schuhe an.
Diese Menschenmasse bewegt sich in nur eine Richtung und wenn sie in eine andere wollen haben Sie verloren.
Das Erstaunliche aber ist, dass alles in einer fast beängstigenden Ruhe vor sich geht. Zwar wird geschoben und gedrängelt als gäbe es am Ende der Treppe gratis Wodka, aber keiner flucht oder schickt den Passanten böse Verwünschungen hinterher.
Und das Beste ist meiner Meinung nach der ungeheure Spaß, den man haben kann. Ich habe von Mutter Natur ein Paar zwar schlacksiger, aber dafür unerhört langer Arme bekommen. Als Kind wusste ich nicht viel damit anzufangen und meine bewusste Kontrolle über diese meine Arme war begrenzt. Daraus resultierten dann der ein oder andere gebrochene Finger.
Spätestens seit Moskau jedoch habe ich den tieferen Sinn entdeckt: In diesem unglaublichen Gedränge ist es ein Heidenspaß die Inhalte von Frauenhandtaschen zu vertauschen. Bevor Sie mir jedoch kriminelle Charakterzüge unterstellen möchte ich erwähnen dürfen, dass der Anstoß zu diesem (anstößlichen) Sport unfreiwillig kam. In eben solch einem Menschenknäuel schlenkern meine Arme immer in irgendwelche Handtaschen hinein und wenn ich sie verdutzt herausziehe hängt vielleicht ein Teddybär, ein Lippenstift, Spiegel, Pfefferspray oder sonst ein lustiges Gerät mit daran. Tja, und eh ich mich's verseh liegt es auch schon in einer anderen Handtasche. Denn die ehemalige Besitzerin wurde vom Menschenstrom weiter gezogen und an ihre Stelle tritt eine neue Frau - mit Handtasche. Nun ja, und jetzt betreibe ich diesen Sport bewusst. Wobei ich versuche Portemonnaies immer in die richtige Handtasche zurück zu geben - natürlich nicht ohne vorher einen 10 Rubelschein mit hineingesteckt zu haben.

Das Musem derweil war von äußerster Übersichtlichkeit und wunderbar. Menschenrechtler in Russland haben leider einen schweren Stand und so ist das 1996 gegründete Sacharov Museum auch nicht viel größer als ein Einfamilienhaus. Die Ausstellung befindet sich in der ersten Etage und ist jedem zu empfehlen, der ein wenig russisch kann. Es ist eine düstere Epoche der russischen Geschichte gezeigt (sprich: die russische Geschichte von den Anfängen bis heute) und es dreht sich vor allem um die Zeit des großen Terrors unter Stalin. Mit Hilfe der NGO Memorial hat es die Sacharov Gedenkstätte geschafft Listen der in Moskau Erschossenen und Verurteilten zu erstellen. Das ergreifenste Exponat ist sicherlich die Akte, in der ein Photo der betroffenen Peron klebt und mit ein paar Zeilen das "Vergehen" geschildert wird. Teilweise sieht man den gebeugten Leuten die Folter an, die sie erlitten. Nicht wenigen scheint es ins Gesicht geschrieben zu sein, dass sie wissen, dass sie gleich erschossen werden. Eine chronolgische Darstellung der schlimmsten Jahre, Geräte und Kleidung aus der Lagerhaft, Listen und Bilder von Denkmälern für Opfer der Repressionen und eine Tafelchronologie Sacharivs komplettieren dieses Museum. Gehen Sie hin, es lohnt sich!

Vom Museum aus machten wir uns auf den Weg zur Arbeitsstelle Memorials, der NGO in Russland.
Ich weiß nicht genau ob ich die dort aufgegriffenen Eindrücke beschreiben möchte. Es war eine unglaublich surreale Begegnung mit der Realität. Dokumente (Originale) von Verfolgten, Verurteilten, Erschossenen; eine Registrierkarte einer vierjährigen, deren Eltern weggesperrt wurden; ein Parteiwausweis, dessen Besitzer ebenso im Nirgendwo verschwand, wie Millionen und Millionen anderer, deren Geschichte und Schicksale Memorial versucht zu sammeln, so dass sie nicht in Vergessenheit geraten.


Sicherlich habt ihr bemerkt, dass ich in dem Moskautagebuch Euch immer mit "Sie" anspreche. Das liegt ganz einfach daran, dass ich vor einem Jahr noch nicht so recht wusste, wem ich das Tagebuch letztendlich zeigen würde. Und für den Fall, dass die Bundeskanzerlin oder zumindest ein Dozent meinerseits diese Zeilen läse, habe ich mich für die etwas höflichere Form entschieden. Ich glaube auch, dass es dem Inhalt eher entspricht, und möchte deswegen dabei bleiben, so lange ich das Moskautagebuch "veröffentliche". Ich hoffe ihr verzeiht mir, dass ich Euch mit Sie anspreche.

Freitag, 9. Oktober 2009

Straßenüberquerung und Kreml

Es folgen ein paar Sätze zum gestrigen Abend:

Mittwoch, 03.September 2008.


Nachdem wir eingecheckt und unsere Zimmer ausgecheckt waren, trafen wir uns, um gemeinsam zu Abend zu essen. Wir planten dieses Vorhaben in einem Restaurant in der Nähe des Hotels durchzuführen. Auf dem Weg dorthin mussten wir zwei Straßen überqueren, was angesichts der Beschaffenheit der Straßen kein Problem gewesen wäre. Als Problem entpuppte sich jedoch der Verkehr. Und das gilt für Moskau allgemein. Zwar gabe es zwei Zebrastreifen, aber diese werden ausschließlich von Fußgängern entdeckt, benutzt und vor allem beachtet. Um in Moskau von einer Straßenseite auf die andere zu kommen folgt man den folgenden Anweisungen (sofern keine Unterführung aufzustöbern ist):
1) Rufen Sie die Leute an, die ihnen lieb sind und machen Sie sie darauf aufmerksam, dass die Möglichkeit bestünde, dass Sie in Kürze nicht mehr sind.
2) Erkundigen Sie sich bei ihrer Lebensversicherung über die Konditionen im Falle eines unfreiwilligen Ablebens.
3) Senden Sie ein Stoßgebet gen Himmel.
4) Stellen sie sich auf die Straße. Aber höchstens einen halben Schritt vom Trottoir entfernt. Es folgen drei Möglichkeiten:
a) Sie werden von einem vorher nicht sichtbaren Auto überrollt.
b) Sie werden von einem vorher sichtbaren Auto überrollt.
c) Sie überleben.

Falls "c" eintrifft, lesen Sie weiter. (Lesen Sie auch so weiter, bitte!)

5) Warten Sie eine Lücke im Verkehr ab, die ungefähr so groß ist wie eine in Deutschland, bei der Sie ihr Kind erschrocken am Arm packen würden, weil es gerade los laufen wollte.
6) Laufen Sie los, und was immer Sie tun, bleiben Sie nicht stehen!

Wie dem auch sei. Nach erfolgreicher Straßenüberquerung und Rückkehr ins Hotel trafen wir uns zu einem geselligen Beisammensein, bei dem es weder an Wodka noch an lustigen Geschichten fehlte. Später kam sogar noch Frank dazu und das Ganzen nahm außergewöhnlich angenehme Züge an, wenn man bedenkt, dass wir in einem Land waren, in dem heutzutage Menschen willkürlich weggesperrt und/oder erschossen werden.

Doch nun zum Tagesverlauf. Wer verwirrt ist (Ich musste gerade mehrmals lesen und scharf nachdenken, um herauszufinden, über welchen Tag ich gerade geschrieben habe), dem sei gesagt:
Der Rückblick (Straßenüberquerung, Restaurant und Wodkabeisammensein) bezieht sich auf den Abend des 2. September, sprich Dienstag. Nun folgt der Tagesablauf des 3. Septembers, Mittwochs.

Nach dem Frühstück ging es auf in die Stadt. Moskau wartete auf uns. Moskau! (In meinem handgeschriebenen Tagebuch finde ich den Hinweis: Schreib was zur Geschichte der Stadt! Bitte nehmt es mir nicht übel, wenn ich mich jetzt nicht weiter zur Historie äußere. Die Zeit fehlt mir einfach.)
Auf dem Programm stand eine Stadtführung. Ich grübelte ein wenig über diese Idee, denn eine Stadt mit mehr als 10 Millionen Einwohnern ließe sich bestimmt nicht innerhalb nur eines Tages erlaufen. Ich sollte glücklicherweise Recht behalten.
Wir trafen unsere Fremdenführerin - nennen wir sie spaßenshalber Ewa - an den Toren des Kremls. Sie riet uns Rucksäcke und ähnliche, potentielle Sprengstoffherbergende Gerätschaften in der dafür vorgesehenen Rezeption zu verstauen. Mißmutig trennte ich mich erst von meinem Rucksack (Ich hatte ihm den Kreml quasi versprochen) und dann von meinem Geld.
Die Kremlführung war großartig!

Ich denke, dass sie es war. Leider steht jetzt in meinem Tagebuch folgendes:
-Schatzkammer
-Waffenkammer (verbranntes Kettenhemd)
-Kloster(Platz) + Pause
-Glocke (6m hoch) + Kanone (auf Kreml)
-ich zu Susanne: wenn ich Präs. wäre
-Kreml raus: Rucksäcke, Alexandergarten, Versuch auf Roten Platz zu gelangen
-Lenin und Niko/Stalin (Hitler)
-Basilika + Tschüß
-Frank + Susanne -> Alte Zeiten
-sehr schön (Russe, der 2 Zigaretten wollte)
-Metro, bot. Garten, Eintritt zurück
-Supermarkt, Döner = nette Frau
-Zimmer, Politik, Hitler ... Antifa
-Bett + Gute Nacht!

Ja. Ich sitze genauso da, wie ihr. Ich habe keine Ahnung, was ich mir da sagen wollte. Sehr interessant finde ich: "sehr schön (Russe, der 2 Zigaretten wollte).
Haben wir einen schönen Russen getroffen, der zwei Zigaretten wollte? Haben wir sie ihm gegeben? Warum erwähne ich das? War er SO schön? ...
Ich sitze hier mit geschürzten Lippen und zusammengekniffenen Augen und versuche mich zu erinnern. Was für ein verbranntes Kettenehemd meine ich?
Ich erinnere mich an einen Garten (den Alexandergarten) und weiß auch noch, dass er sehr schön war. Aber alles andere? Wieso erinnere ich mich nicht so genau?
Vielleicht haben wir getrunken. Vielleicht haben wir im Kreml eine Gehirnwäsche bekommen oder wurden á la Men In Black geblitzdingst. Wahrscheinlicher aber ist, dass ich von der Miliz verprügelt wurde. Diese Burschen waren mir von Anfang an suspekt.

Nun, ich werde wohl den Kreml Kreml sein lassen müssen und zum nächsten Tag übergehen.
Dann berichte ich vom Sacharov Haus und wie man im Gedränge der U-Bahn keine Langeweile bekommt.