Mittwoch, 4. März 2009

Die Perspektive, die Perspektive!

Das englische Wort für "Geschichte" lautet "History". Dieses wiederum lässt sich in folgende Komponente zerlegen: "His" und "Story". Das abermals übersetzt heißt "Seine Geschichte". Geschichte ist also immer subjektiv. Viele Fakten, die vielen bekannt sind, können unterschiedlich interpretiert und analysiert werden. Ein Beispiel:
In meiner ersten Geschichtsstunde in den USA hat uns unser Lehrer eine Liste mit "Fakten" gegeben: In einer Wohnung eines Toten wurden ein Flugticket, ein Brief an eine Frau, Geld in einer anderen Währung und eine Schachtel Zigaretten gefunden. Hausaufgabe: Schreibt eine Geschichte.
Und das haben wir gemacht und wir haben bei zehn Schülern zehn verschiedene Geschichten heraus bekommen. Die Fakten, die jeder hatte, waren alle genau die selben.

Worauf will ich hinaus? Auch wenn es den Eindruck erweckt, dass ich belehren möchte, ist etwas anderes der Fall. Ich möchte auf ein kleines Erlebnis hinweisen.
Neulich, als es hier so sehr schneite und alles dem Winter kapitulierte, habe ich einen Spaziergang entlang der Oder gemacht. Und irgendwann kam mir in den Sinn, dass, obwohl die "Fakten" sich nicht veränderten - Schneefall, Stille, Dämmerung etc. - sich doch eben diese Gegebenheiten unterschiedlich auf zwei Personen auswirken können. Zum Beispiel auf erstens einen Romantiker/Optimisten und zweitens auf einen Pessimisten. Wie genau würden deren Gedankengänge aussehen?
Hier ein Versuch. Zuerst ein Spaziergang aus der Sicht eines Romantikers, danach aus der eines Pessimisten. Selbstverständlich sollte in einem entsprechenden Tonfall gelesen werden. Das heißt im ersten Fall etwas ruhig, fast melancholisch - aber nur fast - mit einer leicht schwingenden Stimme und einem Tonfall im Dur Bereich. Mit sanften Übergängen zwischen den Sätzen. Genaus so, wie der letzte Satz in diesem Video:
http://www.youtube.com/watch?v=l4X_JsEwjHA
Im zweiten Fall jedoch muss die Stimme hart und abgestockt, in tiefem Bass oder besser Moll, mit einem eisigen Klang erklingen.


Ein Spaziergang entlang der Oder in der Abenddämmerung und bei Schneefall aus der Sicht eines Romantikers


Langsam und beinahe lautlos, entsprechend der Atmosphäre an diesem stillen Winterabend, senkt sich der Schnee und setzt sich in den Augenlidern fest, um dort, ein paar Augenblicke verweilend, dem geduldigem Wirt das Aussehen eines glücklich mit der Umgebung verschmolzenen Erdbewohners zu verleihen. Bei jedem Schritt knirscht der Schnee leise unter dem sich dem wandernden Fuß geschmeidig anpassendem Winterstiefel, auf dessen Spitze sich ein kleiner Turm aus reinem Schnee aufbaut, und der, dem gemächlichen und rhythmischen Schritt des dazugehörigen Körpers gleichkommend, innerlich aufgeräumt und leicht daher wippt. Die Spuren im frischen Schnee überdauern nur wenige Momente, und sobald der Wanderer im ruhigen Schneetreiben verschwunden ist, sind alle Anzeichen menschlicher Anwesenheit der Umwelt zurückgegeben. Fast scheint es, als verschmelze die schöpfende Kraft der Natur mit dem, was sie unter Bündelung all ihrer Wunder hervorgebracht hat.
Dem mit sich und der Welt im Reinen Bewegenden eröffnet sich unerwartet ein atemberaubender Anblick: Am Horizont, dem Punkt im Leben, der für viele Fixpunkt und Hoffnungsschimmer gleichzeitig verkörpert, lugt die Abendsonne in friedvollem Orange für den Hauch eines Herzschlages aus der ansonsten in beruhigendem Grau gehaltenen Wolkendecke hervor; fast so, als wolle sie ein letztes Mal dem scheidenden Tag in Augenschein nehmen, um sich schließlich mit einem letzten Blinzeln, in Form einer kurzlebigen Reflexion im kristallklaren Reif der unter einer schützenden Eisdecke schlafenden Oder zu verabschieden. Dann weicht der Schneefall einer klaren, kalten Luft, die leise wispernd das Schlafgemach Frau Holles vor sich her schiebt, und den Blick auf einen Sternen versehenden und herrlich funkelnden Himmel freigibt, während sie den Kopf von jeglichen Sorgen und Alltagsschwierigkeiten befreit.
An diesen Teil der Stadt gelangen die Geräusche der nahen, doch gleichzeitig so weit entfernt gelegenen Zivilisation nur als ein märchenhaftes Flüstern, und die Stille um einen herum erinnert daran, dass wir in unserem Leben hin und wieder einen Augenblick der Einsamkeit und Selbstfindung benötigen, ehe wir mit neuem Mut an die vor uns stehenden Aufgaben gehen können. Die Schnee behangenden Bäume am Ufer des Flusses gleichen kraftvollen und ruhigen Wächtern der Nacht, die stramm und unter einen wärmenden Decke versteckt den einsamen Wanderer beschützen, der sich immer weiter in ein für Menschen unbekanntes Terrain begibt. Eine Eule gleitet aus der Dunkelheit lautlos vorüber, und der Herrscher der Dunkelheit begrüßt so auf seine Art den willkommenen, weil nach Ruhe suchenden Gast.
Mit jedem Schritt, mit dem er sich der mittlerweile als nur ein rauschendes Auf und Ab zu vernehmenden Stadt entfernt, wächst die Gewissheit, endlich im vollständigen Einklang mit der Natur zu sein, hier Kraft zu schöpfen, um dann mit neuem Enthusiasmus zurück zu kehren.











Ach herrje, da tropft ja der Schleim der Romantik aus allen Poren. Mal sehen, was ein Pessimist dazu sagen würde:

Ein Spaziergang entlang der Oder in der Abenddämmerung und bei Schneefall aus der Sicht eines Pessimisten

Der eisige Wintersturm wirbelt unbarmherzig immer neue, eisig kalte Flocken in das Gesicht, und der krachend kalte Wind fährt unnachgebend durch Mark und Bein. Er verleiht dem irrenden Wanderer den Anblick eines Absurdum, das unmöglich in diese Lebens verachtende Umgebung passt. Der rutschige Schneematsch gibt unter jedem Schritt nach, was einen sicheren Tritt unmöglich macht und die mittlerweile völlig durchnässten Stiefel zeigen keinerlei Erbarmen mit der geschundenen Haut der Füße. Auf der Schuhspitze stapeln sich eiligst die Schneeflocken, die im eiligen Schritt rasch zu Eis gefrieren, und so jede wärmende Eigenschaft des zermürbten Leders zunichte machen. Die Spuren im Schnee überdauern nur für den Hauch einer Sekunde, und kurz nachdem der rastlose vorüber geeilt ist, hat die gnadenlose Natur jegliche Ahnung menschlichen Seins überwältigt. Es ist unfehlbar zu erkennen, dass die Natur kein Erbarmen mit dem Eindringling hat, den sie zwar hervorgebracht hat, der sich jedoch immer weiter von ihr fort entwickelte, und so zum unerbittlichen Gegner wurde.
Plötzlich reißt die Wolkendecke auf, und die Sonne lugt höhnisch für einen kurzen Moment aus dem undurchdringlichen Grau aus Schnee, Eis - und folgerichtig dem Tod - hervor, um einen letzten mahnenden Schrei heraufzubeschwören, umzukehren, und schleunigst in vertraute Umgebung zurück zu kehren. Doch die Natur weiß, was sie tut, und die Hypnose ist unüberwindbar. Vorwärts, immer weiter vorwärts … , ins Verderben.
Das Eis auf dem Fluss beginnt zu krachen, und innerlich spürt man, dass es mittlerweile zu schwach ist, um als rettende Bahn in die Zivilisation dienen zu können. Dann bricht der Schneefall abrupt ab, und ein noch eisigerer Wind, nun nicht mehr von dichten Flocken gebremst, macht jeden klaren Gedanken unmöglich. Wie in Trance, stapft man voran. Die Geräusche der Stadt verschwinden, die Stille greift um sich, und nimmt Besitz von der verängstigten, einsamen Seele. Die Bäume am Ufer ragen bedrohlich auf, und schütten eine Ladung kalten Schnees in den Kragen, sobald es jemand wagt, ihre Ruhe zu stören. Urplötzlich schießt eine Eule, wie aus dem Nichts, am Wanderer vorbei, und dieser wahre Herrscher der Finsternis erinnert mit einem lang gezogenen, und klagenden Schrei daran, dass man hier nicht willkommen ist, und geradewegs in die Katastrophe wankt. Keine Menschenseele ist in der Nähe, um einen aufzufangen, und es heißt nur vorwärts, immer weiter vorwärts … .




Naaa, also wenn ihr mich fragt, gefällt mir das Erstere besser. Aber alles eine Frage des Blickwinkels, stimmts?

2 Kommentare:

Melissa Weihmayer hat gesagt…

Meiner Meinung nach sind diese "Geschichten" sehr schön geschrieben herr Robert :-)

Aber vielleicht koennen wir sie gemeinsam durchlesen?

Melissa Weihmayer hat gesagt…

UUUUUUND, darf es nicht unerwähnt lassen...
Alles gute zum Geburtstag!